Eine Kindheit auf dem Fabrikhof
von Barbara Toepfer
Wir, mein Bruder Michael und ich, waren noch klein, als wir im Jahr 1958 mit unseren Eltern von Darmstadt nach Schlierbach auf’s Fabrikgelände zogen. Damals, ungefähr sechs Jahre lang, war die Wächtersbacher Keramikfabrik unsere Welt. Für die Menschen um uns herum eine kurze Episode – für uns Kinder eine lang andauernde, oft endlose Aneinanderreihung von Tagen (und Nächten).
Wir bewohnten das Haus hinten an den Teichen, das heute noch dort steht. Unten waren Garagen für die Autos von Herrn Brandenstein, liebevoll gepflegt von seinem Fahrer, Herrn Ostermann. Wir Kinder nannten ihn „Herr Omann“.
Kinder Toepfer vor dem Kohleschuppen 1958
Es gab keinen Kindergarten, und es gab keine anderen Kinder – denn auf das Gelände durften fremde Kinder nur ausnahmsweise. Dafür sorgten diverse freundliche Portiers, die am Eingangstor mit Argusaugen alles bewachten, was sich bewegte. Es war ein abgeschiedenes Leben, das wir führten. Der Vater, als Leiter des Exportes, viel unterwegs auf Reisen. Die Mutter damit beschäftigt, uns großzuziehen und den Haushalt zu machen, und viel zu lesen, denn auch sie fühlte sich sehr abgeschieden. Wir lebten fast ein wenig wie im Exil, im Rückblick gesehen. Natürlich, wir waren wohl gelitten bei den Arbeitern. Sie waren freundlich zu uns. Wir hatten striktes Gebot, sie bei ihrer Arbeit nicht zu stören – aber oft standen wir lange bei ihnen und schauten zu, wie sie Rohlinge bemalten, und bewunderten, wie sie mit ihren Pinseln und Farben quasi aus dem Handgelenk wunderschöne Dekore entstehen ließen. Selten jedoch entstanden Gespräche.
Familie Toepfer in ihrer Werkswohnung ca. 1960
Wie immer in solchen Kindheitsphasen waren diese Jahre auf dem Fabrikgelände absolut prägend für uns. Ich blieb noch lange sehr schüchtern und ungeübt im Umgang mit Anderen und wurde nie ein Gruppenmensch. Beide, mein Bruder und ich, entwickelten eine tiefe Verbundenheit mit der Natur, mit der Landschaft. Noch immer geht mir das Herz auf in solch sanften Hügeln, Wiesen, Wäldern. Beide hat es uns in die Ferne getrieben, mit großem Hunger nach Selbstständigkeit, Freiheit, Ungebundenheit. Es ist ein Fundament entstanden, das uns sicher trägt. Eine Art Erdverbundenheit, die ein Städter nur schwer entwickeln kann.
Dieses Schlierbach, diese Fabrik mit ihrem Gelände ist immer ein Stück Heimat geblieben – eine Heimat, in der es heute weh tut zu sehen, was von ihr noch ist. Die Wächtersbacher Keramikfabrik ist viel mehr als ein Industriedenkmal –diese zum Teil heruntergekommenen Gebäude erzählen unzählige persönliche Geschichten, die unvergessen bleiben sollten.
Wir würden gerne auch von anderen Kindheitserinnerungen von damals hören - vielleicht mal in der "Außenperspektive". Bitte nehmen Sie Kontakt mit uns auf.