FAST EINE WEIHNACHTSGESCHICHTE

Scherben halten die Kindheitserinnerung lebendig.


Vor Weihnachten kam ein Freund zu Besuch, der ein außergewöhliches Anliegen hatte. In einer Schachtel übergab er die traurigen Scherben eines alten Tellers mit der ernst gemeinten Bitte, die Restaurierung des Tellers zu organisieren. Weil nach unserer Erfahrung eine Restaurierung ein sinnvolles Verhältnis zum materiellen oder auch ideelen Wert erfordert, fragten wir nach der Geschichte des Tellers. Die Geschichte rührte uns regelrecht. Sie zeigt, das die Dinge, mit denen sich Menschen umgeben, oft einen emotionalen Aspekt haben, den man nicht vermutet und den man schon gar nicht verallgemeinern kann:

Die Ehefrau unseres Freundes hatte als Kind den Teller bekommen und über viele Jahre in Gebrauch. Eines Tages fiel der Teller zu Boden und zerbrach. Sie sammelte die Scherben alle ein und bewahrte sie auf. Sie brachte die Scherben später mit in die Ehe, weil sie nicht die Erinnerung an ihre Kindheit wegwerfen wollte. Irgendwann restaurierte das Paar den Teller und hielt ihn weiter in Ehren. Zu ihrem Bedauern ging der Teller aber erneut zu Bruch. Die Schwiegermutter fühlte sich veranlasst eine ungebetene Empfehlung abzugeben und meinte, die ollen, wertlosen Scherben sollen doch weggeworfen werden. Damit löste sie eine kleine Familienkrise aus. Aber ... wieder wurden die Scherben über Jahre aufbewahrt.

Scherben eines Lieblingstellers
Scherben eines Lieblingstellers

Gedanken während der Hilfeleistung

Selbstverständlich versuchen wir die Bitte des Freundes zu erfüllen. Bei genauer Berachtung des Tellers kommt Erstaunliches zum Vorschein, das uns erwähnenswert scheint. Der Struwwelpeterteller - Sie haben unschwer das Struwwelpetermotiv erkannt - hat auf seiner Rückseite die Prägung "RJR 325/2" mit der erhabenen Schildmarke aus der Zeit ab 1880. Es handelt sich bei der Form um einen sehr frühen Entwurf, aus der Zeit vor 1870. Die Direktionsliste aus dem entsprechenden Zeitraum bezeichnet wie folgt: "No. 325 Teller, englisch, flach und tief, Größe 2, ausgemaltes Druckmuster, Preis 42 Pfg."

Prägung RJR325/2 und erhabene Schildmarke
Prägung RJR325/2 und erhabene Schildmarke

Das Buch "Der Struwwelpeter" erschien erstmals 1845, war sehr erfolgreich und erschien 1876 in der 100. Auflage. Wie passt das zeitlich zusammen? Der Teller wurde mit dem Dekor nach 1880 hergestellt; der Bindenschild als Prägung taucht erst ab diesem Zeitpunkt auf. Für die heutigen Zeitgenossen bleibt es sehr verwunderlich, dass ein Design einen Zeitraum von, sagen wir mal, 25 Jahren übersteht und eine erfolgreiche Literatur erst nach mehr als 30 Jahren zu einem Lizenzprodukt wird und im Merchandising landet - dazu noch mit veraltetem Grafikdesign.

Motivausschnitt Teller Motivausschnitt Buch Auflage 1876
Motivausschnitt Teller Motivausschnitt Struwwelpeter von 1876

... und die "Moral" von der Geschichte?

Der Struwwelpeter hat 168 Jahre überdauert und prosperiert immer weiter. Er ist als literarisches Kulturgut in unserem Kulturkreis fest verankert und erfreut heute noch in dieser oder jener Interpretation. Wie steht es um die Keramik im Vergleich dazu? Die Wächtersbacher Steingutfabrik hat keine 180 Jahre geschafft. Sie ist nicht mehr existent - lediglich der Markenname ist noch da. Die heutigen Teller anderer Hersteller tragen auch Lizenzprodukte - heute eher Comics oder Mangas - weniger zur Dekoration, eher zur Verkaufsförderung. Die heiss begehrten Motive werden halbjährlich aktualisiert, der Mode angepasst, konsumiert, dann weggeworfen. Ein einfacher Teller, der 120 Jahre in einer Familie existiert und bewahrt wird ist heute nicht mehr vorstellbar und deshalb eine bewundernswerte Rarität.